Sonntag, 30. November 2014

Einführung in die Grundlagen der Heilkunst Jesu II


1) Auf die Doppelerzählung von der Heilung der blutenden Frau und der Erweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jairus folgt im Markusevangelium die sogenannte „Verwerfung“ Jesu in seiner Heimat. Dieses Triptychon läuft meiner Meinung nach auf einen ironischen Clou hinaus, auf den ich zuletzt eingehen will.

Zunächst gestattet die Gegenüberstellung der Heilungs- und Verwerfungsszene eine erste Annäherung an mögliche Sinnzusammenhänge in den markinischen Heilungserzählungen. (Der Text ist fast wortwörtlich mit Bedacht auf Nuancen übersetzt, griechische Wörter sind soweit möglich jeweils gleichlautend übertragen bzw. kenntlich gemacht.)

Mk 5,25ff: Und seiend eine Frau mit Fluss Blutes zwölf Jahre und vieles erlitten habend von vielen Heilern und alles von ihr hingewendet habend und nichts profitiert, gehört habend von Jesus, gekommen mit dem Volk von hinten, berührte (ψατο – hēpsato) sein Gewand. Denn sie sagte nämlich: Wenn ich berühre (ψωμαι - hapsōmai) nur seine Gewänder, werde ich gerettet (σωθήσομαι - sōthēsomai). Und sofort vertrocknete der Fluss ihres Blutes und sie erkannte im Körper, dass sie geheilt (αται - iatai) ist von der Geißel. Und sofort Jesus bei sich erkannt habend die aus ihm ausgegangene Kraft (δύναμιν - dynamin); sich umgewandt habend in dem Volk, er sagte: Wer hat berührt (ψατο - hēpsato) meine Kleider? Und sagten zu ihm seine Jünger: Du siehst das Volk umpressend dich und sagst, wer hat mich berührt (ψατο - hēpsato)? Und er blickte rings umher zu sehen die dieses getan Habende. Aber die Frau ängstigte sich und zitterte, wissend was ihr geschehen ist. Sie kam und fiel nieder vor ihm und sagte ihm all die Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Tochter, dein Glaube (πίστις - pistis) hat gerettet (σέσωκέν – sesōken) dich, führe dich zum Frieden und sei gesund (γις – hygiēs) von deiner Geißel.

Mk 6,1ff: Und ausging er von dort und kommt zu seiner Heimat und folgen ihm seine Jünger. Und geworden war Sabbat, er begann zu lehren in der Synagoge und die vielen hörend entsetzten sich, sagend: Woher diesem dieses und was die Weisheit die diesem gegebene und die Kräfte (δυνάμεις - dynameis) solche durch seine Hände geschehenden? Nicht dieser ist der Handwerker, der Sohn der Maria und Bruder Jakobus und Joses und Judas und Simons? Und nicht sind seine Schwestern hier bei uns? Und sie fielen ab von ihm. Und zu ihnen der Jesus sagte, dass nicht ist ein Prophet ungeehrt, wenn nicht in seiner Heimat und bei seinen Angehörigen und in seinem Haus. Und er vermochte (δύνατο - edynato) nicht dort zu wirken nicht eine Kraft (δύναμιν - dynamin), wenn nicht wenigen Erkrankten aufgelegt habend die Hände (πιθες τς χερας - epitheis tas cheiras) er pflegte (θεράπευσεν - etherapeusen). Und er wunderte sich wegen ihres Unglaubens (πιστία – apistia) und umführte die Dörfer im Kreis lehrend.

2) In einzigartiger Weise finden sich in diesen Szenen Gegenüberstellungen von Glaube und Unglaube, von einer von Jesus ausgehenden Kraft und dem Unvermögen, eine Kraft zu bewirken.


Bemerkenswert ist zunächst das „räuberische“ Vorgehen der blutenden Frau. Ihre Krankheit macht aus ihr eine Unreine und Unberührbare (3. Mo 15,19: „Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend.“) Der Frau ist es nicht möglich, Jesus um eine Heilbehandlung mittels seiner Hände zu bitten, da sie als Unberührbare seine Ablehnung befürchten muss. Ergo muss sie selbst aktiv werden und sich holen, was sie braucht. Sie macht sich um die Person Jesu keinerlei Gedanken und huldigt ihm auch in keiner Weise. Sie setzt „lediglich“ blindes Vertrauen in ihn und weiß nur eins: „Wenn ich berühre nur seine Gewänder, werde ich gerettet!“ Listenreich nutzt sie die Jesus umdrängende Menge, schleicht sich von hinten an, „erbeutet“ durch Berührung die heilende Kraft und ist sofort „geheilt von ihrer Geißel“. Markus' Darstellung blendet nun auf Jesus. Der „Raub“ der Frau ist nicht unbemerkt geblieben. Es droht ihr ein Gerichtsverfahren: „er sagte: Wer hat berührt meine Kleider?“ Jesus kennt die „Täterin“ bereits, denn er blickt sich um nach der „die dieses getan Habende“. Die Frau fühlt sich auf frischer Tat ertappt und legt ein Geständnis ab: sie „ängstigte sich und zitterte“ und „sagte ihm all die Wahrheit“. Aber der „Richter“ Jesus erkennt auf Freispruch und bringt Segenswünsche aus: „... dein Glaube hat gerettet dich ...

Im Kontrast hierzu beginnen die „vielen“ in Jesus Heimat seine Person und Lehre zu problematisieren: „Woher hat er das?“ Die durch seine Hände geschehenden Kräfte liegen aus ihrer Sicht eher im handwerklichen Bereich: „Nicht dieser ist der Handwerker …?“ Sie vertrauen ihm nicht und erwarten auch nichts von ihm. Beachtlich erscheint, dass Markus diese Szene stilistisch mit vielen Fragen (Was, welcher Art ist seine Weisheit?) und vor allem mit Verneinungen gestaltet hat (wiederkehrendes „nicht“ - die Phrase „εἰ μὴ“ hat im Markusevangelium stets die Bedeutung von „außer“. Ich habe jedoch in Vers 4 und 5 das wörtliche „wenn nicht“ stehen lassen, um auf die weiteren Negationen aufmerksam zu machen.) Das die Szene abschließende „umführte die Dörfer im Kreis, lehrend“ könnte an die Umkreisung Jerichos durch die Israeliten vor dem Fall der Mauern erinnern.


3.1) In normalen „medizinischen“ Begriffen und wie in keiner anderen Heilungsgeschichte betont Markus, dass die blutende Frau geheilt (αται - iatai) und gesund (γις – hygiēs) ist von ihrer „Geißel“ (Mk 5,29.34). Beide Wörter kommen nur an dieser Stelle im Markusevangelium vor.

Grundsätzlich schildert Markus die Heilbehandlungen mit anderen Worten. Der Leprakranke wird „gereinigt“, die vertrocknete Hand und der Blinde werden „wiederhergestellt“, die blutende Frau und der blinde Bartimäus werden „gerettet“. Häufig wird auch das Verschwinden des Symptoms festgestellt: die Lepra „geht sofort weg“, der Blutfluß der Frau „vertrocknet“, der Gelähmte „steht auf und geht hinaus“, die gestorbene Jairustochter „erhebt sich und geht herum“, die Ohren des Tauben/Schwersprechenden „öffnen“ sich und die Fessel seiner Zunge „löst“ sich.

3.2) Schließlich verwendet Markus ein weiteres Wort: θεραπεύω (therapeuó). Der markinische Gebrauch dieses Wortes weist drei Eigentümlichkeiten auf:

- Neben der Verwerfungserzählung taucht es nur in den markinischen Massen- und Meutenszenen auf, also nicht in Bezug auf einen einzelnen Patienten. Jesus therapiert „viele Schlechtseiende“ in Kafarnaoum (Mk 1,34), „viele“ am Meer von Galiläa (Mk 3,10), „wenige Kranke“ in seiner Heimat (Mk 6,5) und die Jünger therapieren „viele Kranke“ (Mk 6,13). Lediglich die Pharisäer beargwöhnen in Mk 3,2, ob Jesus etwa am Sabbat therapieren werde.

- Nicht eine θεραπεύω-Stelle erwähnt ausdrücklich einen Erfolg der Heilbehandlung oder ein Verschwinden eines Krankheitssymptoms.

- Das Verb wird von Markus (im Gegensatz zu den anderen Evangelisten) ausnahmslos im Aktiv gebraucht. Es bezeichnet also die von Jesus und den Jüngern vollzogene Handlung, nicht die bei den Patienten erzielte Wirkung.

Obwohl man mühelos das eingedeutschte Verb „therapieren“ in θεραπεύω (therapeuó) erkennt, hat das Wort ursprünglich eine andere Bedeutung. Es steht für fürsorglich sein, sich etwas oder jemanden widmen, dienen, verehren, pfleglich behandeln. Eine leichte Betonung liegt dabei auf der Hingabe oder Fürsorge des Handelnden und das Wort ist nicht auf den medizinischen Bereich beschränkt. Einige Beispiele aus der „Septuaginta Deutsch“:

LXX-2 Könige 19,25 (2 Samuel): "Und Memphibosthe, der Sohn Jonathans, des Sohns Sauls, ging herab, dem König entgegen. Und er hatte seine Füße nicht behandelt (θερπευσεν) und (seine Nägel) nicht geschnitten und seinen Oberlippenbart nicht zurechtgemacht und seine Kleider nicht gewaschen …

LXX-Esther A 16: „Der König gab Mardochaios die Anordnung, am Hof Dienst zu tun (θεραπεειν), und er gab ihm diesbezüglich Geschenke.

LXX-Sprüche 19,6: „Viele hofieren (θεραπεουσιν) Könige ...

Auf die ärztliche Tätigkeit bezogen meint es im positiven Sinn die fürsorgliche Behandlung, mit der der Arzt sich den Patienten widmet. Im negativen Sinn könnte man es mit „herumdoktern“ übersetzen.

3.3) Natürlich wurde im antiken Sprachgebrauch nicht nur άομαι (iáomai) im Sinne von „geheilt sein“ verwendet. Auch θεραπεύω (therapeuó) im Passiv konnte diese Bedeutung haben, etwa wie man im Deutschen „ich bin/wurde kuriert“ sagt, und zweifelsfrei haben die anderen drei Evangelisten dies auch getan.

Geht man jedoch aufgrund der oben genannten eigentümlichen Verwendung des Wortes bei Markus davon aus, dass er mit seiner Wortwahl Bedeutungsnuancen hervorheben wollte, so scheint die Übertragung von θεραπεύω (therapeuó) mit „pflegen“ als eine gute Wahl.

3.4) Aus dem Kontrast zwischen der Erzählung der blutenden Frau und der Verwerfung Jesu ergäbe sich dann die Schlussfolgerung, dass sich durch den Glauben bzw. durch das Vertrauen des Patienten die „wahren“ Kräfte von Jesus entfalten können und nicht allein medizinische Heilung, sondern auch „Rettung“ in einem weiteren Sinn möglich ist. Ohne Glauben/Vertrauen kann sich Jesus als Arzt den Patienten nur pflegerisch und mit Hingabe widmen, wobei Markus letztlich nicht in Abrede stellt, dass auch dies eine „Kraft“ (δύναμις - dunamis) darstellt. Der Behandlungserfolg bleibt indes offen. (Möglicherweise beabsichtigte Markus wegen seines eher spirituellen Verständnisses eine gewisse Relativierung tatsächlicher Krankenpflege durch die urchristlichen Mission.)


4) Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich selbst noch großes Vertrauen in allegorische Deutungen des Markusevangeliums. Ich bin davon wieder etwas abgerückt, weil dabei die Gefahr besteht, dass man in ihr das eigentliche Ziel der Auslegung sieht. Obwohl ich also nach wie vor vom allegorischen Potential des Markusevangeliums überzeugt bin, glaube ich, dass man dabei nicht stehen bleiben darf. Diese „warnenden“ ;-) Worte vorausgeschickt, möchte ich auf die gleichnishafte Verständnismöglichkeit der Geschichte von der Heilung der blutenden Frau und der Erweckung der Jairustochter hinweisen (dazu bereits Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund).

In beiden Szenen fällt die Nennung der Zahl 12 auf. Die blutende Frau musste 12 Jahre bluten, Jairus’ Töchterlein ist 12 Jahre alt. Die Zahl irritiert zunächst vor allem in der zweiten Geschichte, weil Markus die Jairustochter mit Verkleinerungsformen wie „Töchterchen“ und „Kindchen“ beschreibt, die zu einem Kleinkind, nicht jedoch zu einer Zwölfjährigen passen, die im antiken Judentum immerhin als „erwachsen“ und heiratsfähig galt. Auch die Einschaltung der Altersangabe im Text wirkt aufgrund der scheinbar sinnwidrigen wörtlichen Formulierung ungewöhnlich (Mk 5,42): „Und sofort erhob sich das Mädchen und ging umher; es war nämlichρ - gar) von zwölf Jahren.“ Das zufällige Zusammentreffen dieser Jahresangabe mit der Leidensdauer der blutenden Frau vervollständigt den Eindruck, dass hier möglicherweise „mehr“ gesagt werden soll.

Wer es vermag, mit dem Evangelientext etwas freier umzugehen, wird sicher keine Schwierigkeiten haben, beide Figuren gleichnishaft zu deuten. Die 12 steht für Israel, die blutende Frau für das vom Krieg ausgeblutete Land, das Töchterlein des Synagogenvorstehers für die junge rabbinische Bewegung.

Jesus' Anrede an die blutende Frau mit „Tochter“ (Mk 5,34) sowie seine abschließende Aufforderung „führe dich zum Frieden“, die beide einmalig im Markusevangelium sind, runden die Deutung ab. Bei der Jairustochter ist es Jesus abschließender Rat (Mk 5,43): „(er) sagte, sie sollten ihr zu essen geben“ -  wobei das Brot des Abendmahls gemeint sein könnte.

Die allegorische Deutung ermöglicht auch das Verständnis, warum es Jesus wesentlich wichtiger war, das Gespräch mit der blutenden Frau zu führen, als sich ohne Zeitversäumnis um das sterbende Töchterchen des Synagogenvorstehers zu kümmern.


5) Jedenfalls versteht man nun den ironischen Clou der Verwerfungsszene, die bei Markus nicht in Nazaret, sondern in Jesus’ „Heimat“ und in der Synagoge erfolgt. Noch eben wurde Israel in Gestalt der blutenden Frau errettet und die rabbinische Bewegung in Gestalt der Jairustochter aufgerichtet. Beide zweifeln nunmehr an der Autorität des dafür „verantwortlichen Arztes“.

Im Markusevangelium war es die letzte Predigt von Jesus in einer Synagoge und im weiteren Verlauf wird sich Jesus den Heiden zuwenden.


6) Letztlich scheint mir, dass die Heilung der blutenden Frau nach der Prophezeiung von Jesaja 4,3-4 erfolgte:

Und wer da wird übrig sein in Zion und übrig bleiben in Jerusalem, der wird heilig heißen, ein jeder, der aufgeschrieben ist zum Leben in Jerusalem. Wenn der Herr den Unflat der Töchter Zions abwaschen wird und die Blutschuld Jerusalems wegnehmen durch den Geist, der richten und ein Feuer anzünden wird …“ (die Septuaginta nennt zusätzlich „die Söhne“, der masoretische Text nur die „Töchter“)

Mit der Berührung von Jesus Gewand „vertrocknete“ der Blutfluss der Frau durch den Geist des Feuers, sie wurde anschließend „gerettet“ durch den Geist des Gerichts und war ledig ihrer „Geißel“.

Was für ein Meister dieser Markus doch war …

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