Dienstag, 25. August 2015

Vertrauen zum biblischen Text: Jakob am Jabbok


1) Im 32. Kapitel des Buches Bereschit (1. Mose bzw. Genesis) steht Jakob vor seiner Rückkehr ins heilige Land. Zwanzig Jahre vorher war er geflüchtet, um der Vergeltung seines älteren Zwillingsbruders Esau zu entgehen. Er hatte Esau dessen Erstgeburtsrecht und seinem Vater Isaak den väterlichen Segen abgelistet, der Esau als Älterem gebührte. Nach Jakobs Flucht war sein Schicksal geprägt durch göttliche Offenbarungen, durch weitere Tricks und Täuschungen - die er selbst beging oder deren Opfer er wurde -, durch sein Familienleben und die Rivalität seiner beiden Frauen Lea und Rahel. Nun kehrt Jakob zurück und fürchtet nach wie vor den Zorn seines Bruders, den er ängstlich, aber gemäß einem ausgeklügelten Plan durch reiche Geschenke besänftigen will.

via zhishan.wordpress
In der letzten Nacht vor seiner Begegnung mit Esau lagert Jakobs Tross am Fluss Jabbok. Er steht auf, geht zunächst hinüber, führt dann seine Familie und sein Lager über den Fluss und bleibt dann doch allein zurück. Plötzlich ringt ein geheimnisvoller „Mann“ in der Dunkelheit mit Jakob, der scheinbar den Kampf im Morgengrauen beenden will, aber von Jakob daran gehindert wird, denn dieser will von seinem Gegner gesegnet werden. Der Fremde gibt Jakob den neuen Namen „Israel“ und Jakob gibt dem Ort am Jabbok den neuen Namen „Peniel“, „denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden!

Seit Jahrtausenden rätseln Bibelleser über diese magische Erzählung, darüber, ob der Fremde etwa Gott, ein Engel oder Esau war, ob die Begebenheit sich „wirklich“ oder als Traum oder als tiefes, meditatives Gebet ereignete oder ob es sich um eine allegorische Erzählung handelt. Aber egal, zu welcher Auslegung man auch neigt, man versteht, dass Jakob in dieser Nacht am Jabbok „irgendwie“ mit Gott, vielleicht mit Esau und mit seinem Schicksal ringt und aus diesem Kampf verwandelt und geläutert hervorgeht.

Leider hat dieses „Verständnis“ einen erheblichen Schönheitsfehler. Nach wohl fast einmütiger Auffassung der Bibelwissenschaft ist diese Erzählung nämlich nicht einheitlich entstanden, sondern - um es lax zu sagen – ein Flickenteppich und ein wertloses Kuckucksei. Dabei wird angenommen, dass der Text – wie wir ihn heute in der Bibel lesen können – mehrfach überarbeitet worden sei. Am Anfang habe etwa eine uralte Sage gestanden, die mit der Bibel und Jakob noch nichts zu tun hatte. In dieser standen sich angeblich ein heidnischer Flussgott oder Dämon, der nur während der Nacht erscheint, und ein kanaanäischer Held im Kampf gegenüber. Diese im Volk populäre Geschichte sei zu späterer Zeit abgeändert und neu erzählt worden, als in Kanaan einzelne Stämme mit unterschiedlichen Gottheiten um die Vorherrschaft stritten. Schließlich sei die beliebte Geschichte des Kampfes von den Autoren der Bibel auf Jakob und den Gott Israels so umgeschrieben worden, dass aus dem siegreichen Held der unterlegene Jakob geworden sei. Nach einer der vielen anderen bizarren Meinungen sei der Ursprung der Geschichte hingegen in einer Art Koboldssage zu sehen, in der ein Wanderer des Nachts von einem Kobold angefallen wird.

Ich möchte niemanden davon abhalten, an kanaanäische Dämonen und Kobolde zu glauben. Persönlich muss ich über diese Theorien schmunzeln. Ich habe nicht den allergeringsten Zweifel, dass diese Erzählung echt ist und vollstes Vertrauen verdient.

Diesen langen Beitrag verfasse ich ausnahmsweise als eine Art Rätselspiel, an dessen Ende eine eindeutige Lösung steht. Nach einer Einführung (2.) folgt eine Übersetzung (3.) des biblischen Textes, danach einige Überlegungen zu seiner Struktur (4.-5.) und zu Problemen auf seiner Sinnebene (6.). Mit diesen - manchmal schwierigen - Hinweisen gebe ich Lesern, die so freundlich sind, diesen Beitrag zu lesen, alles Notwendige in die Hand, um von selbst auf die Lösung (7.) des Rätsels zu kommen.

Wer dies wagen will, geht zwei Risiken ein. Er muss – gegen alle Theorien der Bibelwissenschaft - dem biblischen Text vertrauen und sich - Zeile für Zeile und Wort für Wort - in ihn und seine vermeintlichen Widersprüche vertiefen. Er muss außerdem – was noch schwieriger sein dürfte – mir vertrauen.