Freitag, 15. April 2016

Der fromme Marcion und das Primat des Markusevangeliums


1) Meines Erachtens ist die These, dass das Markusevangelium das ältestes Evangelium ist, eines der großen Verdienste der historisch-kritischen Methode. Zwar gab und gibt es vereinzelte Gelehrte, die für den Vorrang eines anderen Evangeliums plädieren. Die dafür vorgebrachten Gründe konnten sich jedoch nicht durchsetzen.

Marcion (rechts) und Johannes via wikicommons
Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Dresdner Professor Matthias Klinghardt seine These, nach der das älteste bekannte Evangelium nicht jenes nach Markus, sondern das vom „Erzketzer“ Marcion von Sinope gewesen sei. Sein Erfurter Kollege, Prof. Markus Vinzent, vertritt die Auffassung, dass Marcions Evangelium nicht nur das erste uns bekannte, sondern überhaupt das erste Evangelium gewesen sei. Vor beiden hatte wohl auch Prof. David Trobisch eine ähnliche Meinung angedeutet. In einem „Die Welt“-Artikel vom 21.07.2015 „Ältestes Evangelium aus Ketzer-Bibel rekonstruiert“ wurde Klinghardts Buch umfangreich besprochen: „Das war und ist theologisches Dynamit. Denn das Ergebnis stellt 150 Jahre kritische Bibelforschung auf den Kopf: Nicht Marcion war demnach der viel gescholtene Erzketzer, der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. das Neue Testament nach seinen Vorstellungen verunstaltete und dabei auch gleich das Alte Testament daraus verbannte, sondern es ist das Marcion vorliegende Buch, das Ur-Evangelium, von dem alle anderen Evangelien abhängen.

In der Zukunft werden junge Theologen und Religionspädagogen die Studienbänke verlassen, denen gelehrt worden ist, dass Marcion das älteste Evangelium geschrieben habe. Auch unabhängig davon, wird das historische Interesse an Marcion sicher zunehmen. Mit diesem Beitrag möchte ich deshalb – für Interessierte, die wie ich selbst kaum eine Ahnung von Marcion haben - vor allem auf zwei kleine Dinge hinweisen: auf die „Frömmigkeit“ von Marcion und die problematische Frage nach dem Inhalt seines Evangeliums. Zum anderen will ich einen kleinen literarischen Fakt präsentieren, der für das Primat des Markusevangeliums gegen Marcion spricht, und außerdem etwas über die aus meiner Sicht kaum überzeugende Ausführung von Prof. Vinzent sagen, mit der er selbst versucht hat, den Vorrang von Marcion zu begründen.


2) Gemäß den Schriften der Kirchenväter lautete Marcions zentrale und gut bekannte These etwa wie folgt: Die Welt, in der wir leben, sei eine schlechte, mit Fehlern behaftete und ungerechte Welt. Sie könne deshalb nur von einem minderwertigen Gott geschaffen worden sein, bei dem es sich um den Schöpfergott der hebräischen Bibel handele und der für all unser Leid und Unglück verantwortlich sei. Diesem engherzigen und unnachgiebigen Schöpfergott stünde ein wesentlich höherer, gänzlich unbekannter und barmherziger Gott des Geistes und der Liebe gegenüber, der seinen göttlichen Sohn Jesus aus Mitleid mit den leidenden Menschen zur Erlösung aus dieser niedrigen Welt gesandt habe. Jesus sei deshalb auch kein sündhafter Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, sondern habe nur einen immateriellen Scheinleib besessen.

Mein Eindruck ist, dass diese theologischen Grundsätze einem die Gedankenwelt Marcions noch nicht wirklich näher bringen. Zwei weitere Informationen, die ich aus dem Klassiker von Adolf von Harnack „Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott“ zitiere, mögen hier jedoch hilfreich sein.


2.1) Marcions Stellung zu Ehe und Sexualität

Auch die Ethik M.s legt hier Protest ein; denn eine weltflüchtigere und schwerere Lebensordnung und -führung hat keine christliche Gemeinschaft vorgeschrieben als die Marcionitische. M. verbot seinen Gläubigen die Ehe und jeglichen Geschlechtsverkehr ganz und taufte daher nur solche Katechumenen und ließ nur solche zum Abendmahl zu, die das Gelübde der Ehelosigkeit leisteten, bzw. solche Eheleute, die eine vollständige Trennung fortan gelobten … Die Ehe ist nicht nur eine schmutzige Schändlichkeit, sondern gebiert auch den Tod. Das Motiv dieser Vorschrift war zunächst das übliche, die Befreiung vom sündigen Fleisch; aber nicht nur trat diese Forderung hier mit einer sonst unerhörten Kräftigkeit des Ekels auf ..., sondern es kam noch ein zweites Motiv dazu: man soll den Bereich des Weltschöpfers nicht vergrößern helfen, sondern man soll ihn einschränken, soweit es in Menschenmöglichkeit liegt … Aber nicht nur durch die vollkommene geschlechtliche Enthaltung soll man dem Schöpfer trotzen, sondern ebenso durch die strengste Enthaltung in Speise und Trank und durch die Bereitwilligkeit zum Martyrium.


2.2) Marcions Interpretationsweise der heiligen Schriften

Bei der Feststellung des kritischen Standpunktes und des Verfahrens M.s darf schließlich nicht unbeachtet bleiben, daß er ein bewußter und entschiedener Gegner der allegorischen Erklärung war. Wir besitzen darüber zahlreiche ausdrückliche Zeugnisse, die uns belehren, daß M. die Frage principiell erwogen hat ... Er hat ausdrücklich erklärt: „μή δεῖν ἀλληγορεῖν τήν γραφήν“ und verstand diesen Satz so, daß weder das AT noch das Evangelium und der Apostolos (Anmerkung: die Paulusbriefe) allegorisiert werden dürfen. Als „purae historiae deservientes" bezeichnet Origenes die Marcioniten ..., und einem anderen Zeugnis entnehmen wir, daß für ihn auch das Evangelium nicht νοητόν (Anm: vergeistigt wahrnehmbar), sondern ψιλόν (Anm: mit bloßem Auge verständlich, unverhüllt, buchstäblich) war; es dürfe daher nur allegorisiert werden, wo es offenkundig Parabeln enthalte.

Gemessen an „modernen“ Vorstellungen ist in Marcion damit wohl eher ein zutiefst frommer, weltabgewandter und biblizistischer Christus-Gläubiger zu erblicken, der in einem grundlegenden Punkt die „katholischen“ Glaubensvorstellungen nicht teilte.


3) Marcions Evangelium

Der Versuch von Prof. Klinghardt, das Evangelium Marcions zu „rekonstruieren“, ist nicht der erste und wird nicht der letzte bleiben. Die aktuell auf internationaler Ebene anerkannteste Rekonstruktion dürfte wohl diejenige von Dieter T. Roth, The Text of Marcion’s Gospel, 2015, sein.

Bekannterweise ist der Text von Marcions Evangelium nicht direkt überliefert ist. Es liegen lediglich Kommentare zu seinem Evangelium und einige Zitate vor, die in den Schriften seiner Gegner überliefert wurden und die sich untereinander in einzelnen Punkten auch widersprechen. So soll etwa der erste Ort des Auftretens von Jesus in Marcions Evangelium nach Irenäus von Lyon und Origenes „Judäa“ gewesen sein, nach Adamantius „Kapernaum“, nach Tertullian „Kapernaum, einer Stadt Galiläas“ bzw. „Galiläa“ sowie nach einer anonymen Quelle „ein Ort zwischen Jericho und Jerusalem“.

Einigkeit besteht, dass der Text von Marcions Evangelium im Wesentlichen einer kürzeren Fassung des Lukasevangeliums ähnelt, in dem zum Beispiel die ersten beiden Kapitel von Lukas „fehlen“. Ob es auch einiges weniges Material bot, dass eine Parallele im Matthäusevangelium oder einem anderen Evangelium hat, ist ungewiss und eher bestritten. Die vorherrschende Ansicht ist, dass Marcion den Text von Lukas kürzte und in wenigen Punkten veränderte. Daneben bestehen zwei nicht ganz unbeachtliche Mindermeinungen. Nach der einen sollen sowohl Marcion als auch Lukas auf einen früheren Ur-Lukas zurückgehen. Nach der anderen ist Lukas eine katholische, veränderte und längere Fassung des Marcion-Evangeliums.


4) Aussagen über den Inhalt von Marcions Evangelium

Ich selbst habe gelernt, dass alle Aussagen über genaue Inhalte von Marcions Evangelium problematisch sind und es sich letztlich um Wahrscheinlichkeitsaussagen nach einer Wichtung der Quellen handelt. Aussagen wie „in Marcions Evangelium stand X“ sind letztlich nur Behauptungen. Korrekt wäre hingegen die Aussage „Tertullian, Epiphanius und Origenes erklären bzw. deuten an, dass X in Marcions Evangelium stand“.

Der Wahrscheinlichkeitsgrad richtet sich danach, von wie vielen Quellen eine Angabe bestätigt wird und ob es sich dabei um ein vermeintliches Zitat, eine bloße Umschreibung des Textes oder lediglich eine vage Anspielung handelt bzw. umgekehrt, ob Verse ausdrücklich als „fehlend“ genannt werden oder die Quellen lediglich schweigen. Zum besseren Verständnis ein kleines Beispiel:

Der Vers 24:1 des Lukasevangelium (Frauen kommen zum leeren Grab) lautet im Griechischen, einer wortnahen Übersetzung und nach der Luther-Bibel wie folgt:

τῇ δὲ μιᾷ τῶν σαββάτων ὄρθρου βαθέως ἐπὶ τὸ μνῆμα ἦλθον φέρουσαι ἃ ἡτοίμασαν ἀρώματα. 
Aber<->am ersten der Woche, (in) tiefster<->Frühe, zu dem Grab (sie) kamen, bringend die bereiteten Gewürze. 
Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.

Die einzige Quelle, die sich auf das Vorhandensein dieses Verses in Marcions Evangelium bezieht, ist die lateinische Anspielung von Tertullian (Gegen Marcion, Buch 4, Kapitel 43,1):

... si nec mulierum illarum officium praeterit prophetia quae ante lucem convenerunt ad sepulcrum cum odorum paratura 
… denn nicht der Frauen Wirken übergangen wird durch die Prophezeiung, die vor Tagesanbruch gemeinsam kamen zum Grab mit zubereiteten Gewürzen

Adolf von Harnack hat den Vers in Marcions Evangelium deshalb wie folgt „rekonstruiert“:

[ὄρθρου βαθέως] ἐπὶ τὸ μνῆμα ἦλθον [φέρουσαι] ἃ ἡτοίμασαν ἀρώματα.
[in tiefster Frühe], zu dem Grab (sie) kamen, [bringend] die bereiteten Gewürze.

Da Tertullian die Wochentagsangabe „am ersten Tag der Woche“ aus Lukas nicht erwähnt, hat Adolf von Harnack diese Angabe in seine Marcion-Rekonstruktion nicht aufgenommen.

Die Tageszeitangabe „in tiefster Frühe“ (ὄρθρου βαθέως) gemäß dem Lukasevangelium hat von Harnack wohl deshalb in Klammern gesetzt, weil Tertullians Bemerkung „ante lucem“ (vor Tagesanbruch) nicht als lateinische Übersetzung von „ὄρθρου βαθέως“ verstanden werden kann. Die Vulgata etwa übersetzt „ὄρθρου βαθέως“ treffend mit „valde diluculo“, andere frühe lateinische Übersetzungen in ähnlicher Weise. Es ist daher fraglich, ob Tertullians Bemerkung „vor Tagesanbruch“ (ante lucem) nur eine sinngemäße Umschreibung ist oder ob Marcions Evangelium tatsächlich so lautete. Man kann wohl nur sagen, dass nach Tertullians Ausführungen der Vers auch eine Tageszeitangabe enthielt, die das Einsetzen der Handlung vor dem Sonnenaufgang nahelegt. Mehr Gewissheit ist hier kaum zu erlangen.

Ebenso setzte von Harnack das Partizip „bringend“ in Klammern, da Tertullians Zeugnis das Wort nicht enthält. Man kann nur mutmaßen, dass dessen Vorhandensein Sinn machen würde. Tatsächlich ist es jedoch unbelegt. Wirklich belegt sind daher folgende Informationen

- eine dem Wortlaut nach unbekannte Tageszeitangabe, wohl vor Sonnenaufgang
- „sie“ bzw. namentlich hier nicht genannte Frauen als handelnde Personen
- Grab als Ort der Handlung
- zubereitete Gewürze


5) Eine kleine Lanze für das Primat des Markusevangeliums

Dass nach herrschender Meinung das Markusevangelium das älteste Evangelium ist, beruht auf vielen Gründen. In den letzten Jahrzehnten tendierte die Wissenschaft dazu, neben eher allgemeineren Überlegungen auch kleine Details im Wortlaut der Evangelien auszuwerten, die im Ergebnis ebenfalls für den Vorrang von Markus sprechen. Einerseits ist deren Wert zwar begrenzt, da sie nur einen Primat der jeweiligen Stelle begründen können. Andererseits beruhen sie nicht auf generellen Gedanken, die „man so oder auch anders sehen kann“, sondern auf einem kleinen „harten“ Fakt.

Zugrunde gelegt wird dabei das Szenario, dass die anderen Evangelisten, indem sie zuweilen Details abänderten oder eigenes Material zu ihrer Markus-Quelle hinzufügten, kleine „Sinnfehler“, „Inkonsequenzen“ und gar leichte „Widersprüche“ bei ihrer Bearbeitung produzierten. Dazu folgendes Beispiel:

Im Markus- und im Lukasevangelium findet sich folgender Ausspruch von Jesus in der Perikope vom reichen Mann/Jüngling:

Mk 10:18 Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.
Lk 18:19 Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

Matthäus hat diesen Wortlaut leicht geändert - Mt 19:17 Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich nach dem, was gut ist? Gut ist nur Einer.

Dieser Ausspruch ist für Marcions Evangelium sehr gut belegt und zwar durch Zitate und Anführungen bei Tertullian (Gegen Marcion, 4.36.3,6), Hippolytus von Rom (Widerlegung aller Häresie, 7.31.6), Origenes von Alexandria (De Principiis, 2.5.1,4), Epiphanios von Salamis (Panarion 42.11.6,17) und Adamantius (Dialog, 2,18–19 [1.1] sowie 92,24–32 [2.17]). Lediglich der genaue Wortlaut ist etwas fraglich. Er könnte gelautet haben wie im Lukasevangelium („Niemand ist gut als Gott allein“) oder durch den Zusatz („Gott allein der Vater“) oder an Stelle von „niemand“ könnte es wie bei Matthäus „nur einer“ mit den Zusätzen „Gott“ oder „Gott der Vater“ geheißen haben.

Fest steht, dass alle Evangelisten einschließlich Marcion mit diesem Vers das Attribut „gut“ ausschließlich Gott vorbehalten - vergleichbar etwa mit den Eigenschaften „allmächtig“ oder „allwissend“. Im Griechischen lautet das Wort für „gut“ bei allen Evangelisten und auch bei Marcion „ἀγαθός“ (agathos). Unter dem Link kann man sämtliche Vorkommen des Wortes im NT prüfen.

Da mit diesem Spruch von Jesus so sehr darauf bestanden wird, dass ausschließlich Gott „agathos“ ist, wäre es sicher „inkonsequent“ oder „widersprüchlich“, wenn an einer anderen Stelle des Evangeliums dann doch andere Personen ebenfalls als „agathos“ bezeichnet werden.

Außer Markus unterläuft jedoch jedem synoptischen Evangelisten dieser „Patzer“.

Matthäus
7:17 So bringt jeder gute (ἀγαθὸν) Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum ...
12:35 Ein guter (ἀγαθὸς) Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens ...
25:21 Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger (ἀγαθὲ) und treuer Knecht ...
25:23 Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger (ἀγαθὲ) und treuer Knecht ...

Lukas
6:45 Ein guter (ἀγαθὸς) Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens ...
19:17 Und er sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger (ἀγαθὲ) Knecht ...
23:50 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Josef ..., der war ein guter (ἀγαθὸς), frommer Mann ...

Marcion
(6:45) Ein guter (ἀγαθὸς) Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens ...


Die Rede vom „Vom Baum und seinen Früchten“ (Lukas 6:43ff) ist für Marcion durch viele Zitate belegt. Auf den Vers 6:45 wird durch Tertullian jedoch nur angespielt (Gegen Marcion, 4.17.12: „boni de thesauro“ – Gutes aus dem Schatz). Origenes von Alexandria (De Principiis, 2.5.4) und Adamantius (Dialog, 58,20–24 [1.28]) zitieren zwar in ihren Ausführungen diesen Vers. Da das Zitat bei Adamantius aber weitestgehend der matthäischen Fassung entspricht, nehmen die meisten Forscher an, dass Adamantius hier nicht (korrekt) aus Marcion zitiert und die Stelle bei Marcion deshalb etwas anders lautete. Origenes wiederum ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob er sich mit seinem Zitat wirklich auf Marcions Evangelium beziehen will. Während von Harnack aufgrund dieser Ungewissheiten eine Rekonstruktion des Wortlauts ablehnte, plädierte Dieter T. Roth dafür. Gesagt werden kann wohl nur, dass der Vers Lk 6:45 in Marcions Evangelium vorhanden war, zumindest sinngemäß wiedergegeben wurde und das Wort „agathos“ an dieser Stelle vorkam.

Ob das Wort „agathos“ auch in den Versen vorkam, die Lk 19:17 und 23:50 entsprechen, kann mangels Beleg nicht gesagt werden. Zwar enthielt Marcions Evangelium auch das Gleichnis „Von den anvertrauten Pfunden“ und die Grablegung durch Joseph von Arimathäa, auf den Wortlaut wird jedoch im entscheidenden Punkt nicht einmal dezent angespielt. Dass Marcion zumindest den Vers 19:17 enthielt, mag wahrscheinlich sein, ist aber letztlich nicht belegt.

Hinsichtlich der Verwendung des Wortes „agathos“ ist also lediglich das Markusevangelium widerspruchsfrei, während die Evangelien nach Matthäus, Lukas und Marcion die erwähnten „Patzer“ enthalten. Dies spricht dafür, dass Matthäus, Lukas und Marcion die Aussage „nur Gott ist gut“ - direkt oder indirekt – von Markus übernahmen, jedoch vergaßen, sich strikt an die von Markus gemachte Vorgabe zu halten, und mit der Einfügung späteren Materials sich in Widerspruch zu dieser Aussage setzten.


6) Prof. Vinzents Versuch

das angebliche Schema
Prof. Vinzent hat den Versuch unternommen, den von ihm angenommenen Vorrang des Marcion-Evangeliums auch mit einem derartigen „härteren“ Argument zu begründen. Er hat dazu auf eine Gegenüberstellung von Versen der Passionsgeschichte aus den Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas, Johannes, Marcion und apokr. Petrus zurückgegriffen, die von Timothy P. Henderson erstellt wurde. Nach dieser Gegenüberstellung würden sich vermeintlich einzelne Verse in allen Evangelien entsprechen. Laut dieser Gegenüberstellung von Henderson soll jedoch kein Vers aus irgendeinem der anderen Evangelien dem Vers Mk 16:1 entsprechen und kein Vers aus einem der anderen Evangelien den Versen Mk 16:3-4. Hingegen würden allen Versen des Marcions-Evangelium ein korrespondierender Vers aus den anderen Evangelien entsprechen. 
 
Hiervon ausgehend argumentiert Prof. Vinzent: „If Mark had been the source of our Synoptics (and therefore to Marcion, had he copied Luke), why does none of the witnesses follow Mark 16:1 – but all have Mark 16:2 parallel? The verse is attested for Marcion. Why did they not follow Mark 16:3-4, but only pick up Mark 16:5 again? Why, if Luke followed Mark, did he – like the other witnesses pick up exactly and only these verses of Mark 16:2.5, but jumped over verses 16:3-4?

Zur Entschuldigung von Prof. Vinzent sei gesagt, dass er diese Aufstellung lediglich von Timothy P. Henderson übernommen, allerdings nicht kritisch überprüft hat. Denn bereits nach einem ersten Blick ist offensichtlich, dass diese Behauptungen nicht ansatzweise den Tatsachen entsprechen. Das eindeutigste Beispiel ist hierbei das apokryphe Petrusevangelium, dass die Verse Mk 16:3-4 nicht nur nicht „überspringt“, sondern klar aufgreift und ausbaut. Zudem enthalten alle anderen Evangelien die Information aus Mk 16:4 über den weggewälzten Stein vor dem Grab.

Markus 16:3-4
3 Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? 4 Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.

Apokr. Petrus (Fragestellung, großer Stein, geöffnetes Grab)
53. Wer aber wird uns auch den Stein, der an den Eingang des Grabes gelegt ist, wegwälzen, damit wir hineingelangen, uns neben ihn setzen und tun, was sich gehört? - 54. denn der Stein war groß - und wir fürchten, daß uns jemand sieht. Und wenn wir es nicht können, so wollen wir wenigstens am Eingang niederlegen, was wir zu seinem Gedächtnis mitbringen, wollen weinen und klagen, bis wir wieder heimgehen." 55. Und als sie hingingen, fanden sie das Grab geöffnet.

Lukas 24:2 (weggewälzter Stein)
2 Sie fanden aber den Stein weggewälzt von dem Grab

Johannes 20:1 (weggewälzter Stein)
1 Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weg war.

Matthäus 28:2
… Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf.


Gleiches lässt sich für Mk 16:1 zeigen.

Markus 16:1-2
1 Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. 2 Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging.

Matthäus 28:1 (enthält Zeitangaben von Mk 16:1 [Sabbat] und 16:2 [Wochentag])
1 Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.

Lukas 23:56-24:1 (enthalten die Themen Sabbat und wohlriechende Öle aus Mk 16:1)
56 Sie kehrten aber um und bereiteten wohlriechende Öle und Salben. Und den Sabbat über ruhten sie nach dem Gesetz. 1 Aber am ersten Tag der Woche sehr früh kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten.

Johannes 20:1 (bezieht sich tatsächlich nicht auf Mk 16:1, hat die wohlriechende Öle jedoch in Joh 19:40 beim Begräbnis)
40 Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher mit wohlriechenden Ölen, wie die Juden zu begraben pflegen. … 1 Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weg war.

Apokr. Petrus (deutet Kenntnis der wohlriechende Öle an)
50. In der Frühe des Herrntages nahm Maria Magdalena, die Jüngerin des Herrn - aus Furcht wegen der Juden, da (diese) vor Zorn brannten, hatte sie am Grabe des Herrn nicht getan, was die Frauen an den von ihnen geliebten Sterbenden zu tun pflegten - 51. mit sich ihre Freundinnen und kam zum Grabe, wo er hingelegt war


Meines Erachtens zeigen diese Verse vor allem, dass alle Evangelisten „ihre“ Fassung der Auferstehungsgeschichte sehr sorgfältig und individuell ausgearbeitet haben. Sie scheinen mir daher kaum geeignet, um mit ihnen den zeitlichen Vorrang eines Evangeliums begründen zu können.

Die Prüfung eines kleinen Details zeigt jedoch, dass sie eher für den Nachrang der Evangelien nach Lukas und Marcion sprechen. Bei dieser Einzelheit handelt es sich um die Nennung der Namen der Frauen bzw. der Frau. In den Evangelien nach Markus, Matthäus, Johannes und Petrus stimmen zwar die Anzahl der Frauen und deren Namen nicht vollständig überein. Diese Evangelien stimmen jedoch alle darin überein, dass sie die jeweiligen Namen ausdrücklich nennen – und zwar bevor die Frauen das leere Grab entdecken.

Markus 16:1
1 Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.

Matthäus 28:1
1 Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen.

Johannes 20:1
1 Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab

Petrus
50. In der Frühe des Herrntages nahm Maria Magdalena, die Jüngerin des Herrn … mit sich ihre Freundinnen und kam zum Grabe

Das Lukasevangelium nennt die Namen der Frauen jedoch erst in Lk 24:10 nach der Verkündung der Auferstehungsbotschaft. Weder bei der Kreuzigung, noch beim Begräbnis oder beim Gang zum Grab gibt Lukas die Namen der Frauen an. Stets spricht er nur von den „Frauen aus Galiläa“, den „Frauen“ oder verwendet das unpersönliche „sie“ (, dass im Griechischen nicht ausdrücklich geschrieben wird, sondern sich aus der gebeugten Verbform ergibt). Soweit wir wissen, ist dies in Marcions Evangelium ebenfalls der Fall gewesen. Dass Marcion die Namen nicht ausdrücklich nennt, ist für das Begräbnis und – wie oben gezeigt – auch beim Gang zum Grab belegt. Lediglich für die Kreuzigung fehlt jegliche Attestierung, so dass offen bleibt, ob Marcion dort ebenfalls die „Frauen aus Galiläa“ erwähnt und falls ja, mit welchen Worten er dies tat.

Die Argumentationsweise von Prof. Vinzent hat daher eher umgekehrt Geltung.

Wenn Marcion die Quelle aller Evangelien war, warum stimmt dann lediglich Lukas in diesem Detail mit ihm überein, dass die Namen der Frauen beim Gang zum Grab noch nicht genannt werden. Warum wichen alle anderen Evangelien hiervon ab und erwähnten ausdrücklich die Namen?


Auf Einladung von Larry Hurtado hat Dieter T. Roth im vergangenen Jahr einige Überlegungen beigesteuert, die ich als Abschluss verlinke.

Roth on Vinzent on Marcion
Roth on Marcion and Methodology
Roth on Reading the Sources for Marcion

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