Donnerstag, 1. Juni 2017

Markus 13

1) Das 13. Kapitel des Markusevangeliums scheint mir eine einzigartige jüngere Rezeptionsgeschichte aufzuweisen.

Vielleicht kann man sagen, dass sich das Hauptinteresse der historisch-kritischen Exegese an diesem Text darauf beschränkte, zwei oder drei Verse dieses Kapitels als Prophezeiung der Tempelzerstörung zu deuten und anhand dessen das Markusevangelium auf eine Zeit um 70 n.Chr. zu datieren. Den übrigen knapp 35 Versen maß man in der Regel wenig Bedeutung bei. Sie wurden entweder im Hinblick auf die Zerstörung Jerusalems interpretiert oder als bloßes apokalyptisches Schmuckwerk für unwesentlich gehalten. Hierdurch entstand eine allgemeine Meinung, nach der das 13. Kapitel vermeintlich von der Zerstörung des Tempels und der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. handelt. Professor Pilhofers Vorlesung mag für diese Auffassung ein gutes Beispiel sein.

Spätestens seit den 1990er Jahren kündigte sich jedoch ein Wechsel in der Wahrnehmung der Ölbergrede an. Dabei wurde vor allem die offensichtliche Tatsache herausgestellt, dass sich der Text in der Hauptsache um etwas anderes dreht und die zentrale Prophezeiung, auf die die Rede von Jesus zuläuft, das Kommen des Menschensohnes in den Wolken und die Heimführung der Auserwählten in den Versen 26 und 27 ist. Dabei verwarfen die meisten jüngeren Kommentatoren nicht die Ansicht, dass Vers 13:2 auf die Tempelzerstörung anspielen könnte. Sie sahen in dieser Anspielung jedoch nicht mehr das Leitthema, unter dem das 13. Kapitel zu lesen ist. Vor allem simple Wahrheiten fielen dabei ins Gewicht, so etwa der Umstand, dass im gesamten Kapitel weder Jerusalem noch der eigentliche Tempel (ναός - naos) genannt wird. Der äußere Tempelbezirk mit den Vorhöfen (ἱερόν - hieron) wird zwar erwähnt, dabei wird aber von Markus nur erzählt, dass Jesus ihn verlässt (Mk 13:1) und später ihm gegenüber auf dem Ölberg sitzt (Mk 13:3). Jesus selbst spricht ausdrücklich mit keiner Silbe über ihn.

Was in zunehmendem Maß als inakzeptabel erscheint, ist die Vorstellung, dass wenige Andeutungen in drei Versen das zentrale Thema des Kapitels bilden sollen, während der ausdrückliche Inhalt von Jesus langer Rede nur unwesentliches Beiwerk darstellen soll. Für immer mehr Kommentatoren ist das in den Versen 26 und 27 prophezeite Kommen des Menschensohnes und die Sammlung der Auserwählten das eigentliche Thema des Kapitels, jener „Tag des Herrn“ von dem die Propheten der hebräischen Bibel sprachen und der nach Paulus wie ein „Dieb in der Nacht“ (1. Thessalonicher 5:2) hereinbrechen wird. Neben diesem alles umwälzenden Ereignis kommt der Tempelzerstörung allerhöchstens die Bedeutung einer - wenn auch nicht unwichtigen - Randnotiz zu.

Die Konsequenz des moderneren Verständnisses liegt darin, dass der bequeme Rückzug auf eine knappe Interpretation verschlossen ist und die gesamte Ölbergrede wieder gelesen und verstanden werden muss. Mit diesem Beitrag will ich nur einige kleine Anregungen für einen ersten Überblick geben, die meines Erachtens aus dem Aufbau des Kapitels folgen.


2) Die ersten beiden Kapitelverse sind nach moderner Meinung Übergangsverse. Sie schließen einerseits Jesus Wirken im Tempelbezirk an diesem Tag ab, das immerhin ab Markus 11:27 andauerte, und leiten andererseits zur Ölbergrede über. Der Ortswechsel in Vers 3 betont den Neueinsatz.

1 Und als er aus dem Tempel kam, sagt ihm einer seiner Schüler: Lehrer, sieh! Welche Steine und welche Bauten! 2 Und Jesus sagte ihm: Erblickst du diese großen Bauten? Keinesfalls wird hier belassen ein Stein auf einem Stein, der nicht zerstört wird.


3) Die übrigen Verse 3-37 erscheinen chronologisch, aber auch thematisch stark durchgegliedert.

So schildern die Eingangsverse 3-4 die Gesprächssituation und die Fragestellung der Jünger. Die Ausgangsverse 34-37 greifen die Gesprächssituation neu auf. Dort werden die vier Jünger (Petrus und Jakobus und Johannes und Andreas) mit dem Begriff „Knechte“ in Vers 34 erneut benannt und mit dem „Türhüter“ soll sicherlich Petrus gemeint sein. Während die Jünger in Vers 3 Jesus privat „für sich allein“ befragen wollen, erteilt Jesus dem letztlich eine Absage, wobei die Aufforderung der Jünger in Vers 4 „Sage uns …“ in Vers 37 von Jesus wieder aufgegriffen wird: „Was ich euch aber sage, sage ich allen …“.

3 Und als er auf dem Ölberg saß, gegenüber dem Tempel, befragte ihn Petrus und Jakobus und Johannes und Andreas für sich allein: 4 Sage uns: Wann werden diese Dinge geschehen? Und was wird das Zeichen sein, sobald diese Dinge geschehen, damit alles vollendet wird?

34 Wie ein fortreisender Mensch, der sein Haus verlässt, und seine Knechte bevollmächtigte, jedem sein Werk, und dem Türhüter gebot er, achtsam zu sein. 35 Also seid achtsam! Ihr erkennt nämlich nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob abends oder zu Mitternacht oder beim Hahnenschrei oder früh. Nicht, dass er euch schlafend findet, wenn er plötzlich kommt. 37 Was ich euch aber sage, sage ich allen: Seid achtsam!



4) Die Frage der Jünger ist eine doppelte Fragestellung: zum einen nach dem Zeitpunkt der Geschehnisse und zum anderen nach dem Zeichen, wann die Geschehnisse sich vollenden.

Dem ersten Frageteil nach dem Zeitpunkt der Geschehnisse sind im Wesentlichen die Verse 5-27 gewidmet, dem zweiten Frageteil nach dem Zeichen der nahenden Vollendung die Verse 28-33.

Die erste Frage („Wann …“) erreicht ihre Antwort nach einer Abfolge dramatischer Ereignisse schließlich in den Versen 26f („26 Und dann werden sie den Menschensohn sehen, kommend in den Wolken mit vielen Mächten und in Herrlichkeit. 27 Und dann wird er die Engel aussenden, um die Auserwählten zusammen zu führen aus allen vier Winden, von den Ausläufern der Erde bis zu den Ausläufern des Himmels.“)

Die zweite Frage nach dem Zeichen wird letztlich verneint, da niemand den genauen Zeitpunkt weiß - außer dem Vater („32 Wegen jenem Tag aber oder der Stunde: Niemand erkennt es, nicht einmal die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, außer der Vater.“) Als Hinweis auf das nahe Bevorstehen nennt Jesus jedoch das Feigenbaumgleichnis in Vers 28f („28 Aber von dem Feigenbaum lernt das Gleichnis: Sobald sein Zweig bereits zart geworden ist und die Blätter sprossen, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 Derart auch ihr: Sobald ihr diese Dinge geschehen seht, erkennt ihr, dass es nahe vor der Türe ist!“)

Die dramatischen Ereignisse des ersten Teils werden in Vers 18 bildlich dem Winter angenähert („Aber betet, damit es nicht Winter sein wird!“), die Zeit der Vollendung wird in Vers 28 hingegen mit dem Sommer assoziiert („ … erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist“).


5) Die Verse 5-8 und 21-25 bilden einen weiteren thematischen Rahmen.

5-6 Warnung vor Verführern + 7-8a irdische Verheerungen
21-23 Warnung vor Verführern + 24-25 himmlische Erschütterungen

5 Aber Jesus begann ihnen zu sagen: Blickt hin, dass euch nicht jemand verführt! 6 Viele werden in meinem Namen kommen und sagen „Ich bin es“ und viele werden verführt werden. 7 Sobald aber ihr von Kriegen hört und Gerüchte von Kriegen, seid nicht beunruhigt! Es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. 8 Erheben wird sich Volk gegen Volk und Königreich gegen Königreich, es werden Erdbeben an mehreren Orten sein, es werden Hungersnöte sein

21 Und falls dann jemand euch sagt: Sieh, hier ist der Christus! Sieh, dort! Vertraut nicht darauf! 22 Erheben werden sich nämlich falsche Christusse und falsche Propheten und sie werden Zeichen und Wunder von sich geben, um die Auserwählten, falls es möglich ist, irre zu führen. 23 Ihr aber blickt hin! Ich habe euch alles vorher gesagt. 24 Aber in jenen Tagen, nach jener Bedrängnis, wird die Sonne verdunkelt und der Mond nicht scheinen. 25 Und die Sterne werden vom Himmel fallen und die Mächte in den Himmeln werden erschüttert.



6) Einen weiteren inneren Rahmen könnten die Verse 8b und 19-20 als zeitliche Umschreibungen der Geschehnisse bilden.

8b Der Anfang der Wehen sind diese Dinge.

19 Jene Tage werden nämlich eine Bedrängnis sein, wie sie derart noch nie geschehen ist - seit Anbeginn der Schöpfung, welche Gott erschaffen hat, bis jetzt, und keinesfalls mehr geschehen wird. 20 Und wenn der Herr nicht die Tage verkürzt hätte, würde kein Geschöpf gerettet werden. Aber wegen der Auserwählten, die er auserwählt hat, hat er die Tage verkürzt.



7) Im Zentrum des ersten Antwortteils finden sich schließlich die Verse 9-18. Der erste Teil handelt von äußeren und inneren Verfolgungen der Jünger, auf die diese mit Standhaftigkeit reagieren sollen. Im Gegensatz dazu sollen die Judäer (nicht die Jerusalemer und Galiläer!) in die Berge fliehen, wenn das rätselhafte „Scheusal der Verwüstung“ aus dem Buch Daniel zu sehen ist, das als ein „er“ beschrieben wird, der steht, wo er nicht zu stehen hat.

9 Blickt ihr aber auf euch selbst! Ausliefern wird man euch an Synhedrien und in Synagogen wird man euch prügeln. Und vor Statthaltern und Königen werdet ihr wegen mir stehen, ihnen zum Zeugnis. 10 Und all den Völkern muss das Evangelium verkündet werden. 11 Und sobald man euch wegführt, um euch auszuliefern, sorgt euch nicht, was ihr sprechen sollt. Was aber euch auch eingegeben wird in jener Stunde, das sprecht. Nicht ihr nämlich werdet sprechen, sondern der heilige Geist. 12 Und ein Bruder wird seinen Bruder zum Tode ausliefern und ein Vater sein Kind, und Kinder werden sich gegen ihre Eltern erheben und sie töten. 13 Und ihr werdet von allen gehasst sein wegen meines Namens. Wer aber durchhält bis zum Ende, derjenige wird gerettet.

14 Sobald ihr aber das Scheusal der Verwüstung seht, wo er nicht zu stehen hat - der Leser möge es verstehen! -, dann heißt es für diejenigen in Judäa: Flieht in die Berge! 15 Wer auf einem Gebäude ist, steige nicht herab, noch gehe er hinein, um etwas aus seinem Haus zu holen. 16 Und wer auf dem Landgut ist, wende sich nicht nach denen hinten, um sein Gewand zu holen! 17 Weh aber den Schwangeren und Stillenden in jenen Tagen! 18 Aber betet, damit es nicht Winter sein wird!



8) Was das Kapitel vor allem durchzieht, sind Jesus eindringliche und wiederkehrende Aufforderungen an die Jünger, genau hinzublicken, achtsam und in den einsetzenden Verfolgungen standhaft zu sein.

Die Ölbergrede scheint damit genau jener Vorstellung eine Absage erteilen zu wollen, die die christliche Spätantike prägte: Dass man als Jünger von Jesus „ruhig und gelassen“ oder gar siegesgewiss zuschauen darf, wie das Unheil über Jerusalem, den Tempel und das jüdische Volk hereinbricht. Der Platz, den Jesus den Jüngern zuwies, war wohl eher das „Auge des Orkans“.


9) Der Text weist zudem Bezüge zu späteren Ereignissen des Evangeliums auf.

Die Mahnungen an die Jünger zur Achtsamkeit auf dem Ölberg verweisen beispielsweise auf deren Scheitern in Gethsemani (der namentlichen „Ölpresse“): „14:37 Und er kommt und findet sie schlafend und sagt zu Petrus: Simon, schläfst du? Konntest Du nicht eine Stunde achtsam sein?“ Nur an diesen beiden Stellen verwendet Markus das Verb „achtsam sein“ (γρηγορεύω - grégoreó) und zwar jeweils 3 Mal.

Die vier Zeitangaben in Vers 35 („Ihr erkennt nämlich nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob abends oder zu Mitternacht oder beim Hahnenschrei oder früh“) kehren als Stationen der Passion wieder (Verhaftung – Verhör vor dem Hohen Rat – Verleugnung des Petrus – Verhör vor Pilatus).

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